Was für ein Wahnsinn! Wir schreiben das Jahr 2021 und in Washington stürmen welche, die die Tatsachen nicht wahrhaben und ihre Welt mit Gewalt durchsetzen wollen, das Kapitol (ja, das ist krasser als in Berlin und trotzdem hat Heiko Maas recht, wenn er die Verbindung zur Reichstagstreppe herstellt) – und währenddessen sinniere ich Mittwochabend mit Elias-Frauen in unserem Zoom-Meeting über die Jahreslosung: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36).
Ernsthaft? Das kann’s doch nicht sein! Soll ich jetzt mild lächelnd Verständnis für solche Leute aufbringen müssen? Verstehen, dass sie sich abgehängt fühlen, whatever? Und gilt das etwa auch für den, der sie dazu anstiftet? Muss ich mit dem auch noch Mitgefühl haben?
Gestern war mir die Jahreslosung noch nur zu schwammig, irgendwie so beliebig richtig, nix Handfestes – heute kann ich es dabei nicht belassen. Barmherzigkeit … Klingt toll. Aber ernsthaft? Barmherzig sein, die Schwächen anderer im Blick haben und mit ganz weitem Herzen die Menschen mit ihren Fehlern, Macken und all dem Zeugs trotzdem liebhaben – wenn es das heißt, diese Jahreslosung, wenn ich als SuperPädagoginSozialarbeiterinHobbypsychologin Verständnis für alle und Nachsicht gegenüber allen walten lassen soll, dann kann ich das nicht. Will ich auch nicht. Punkt.
Wenn Menschen die Demokratie mit Füßen treten, wenn Menschen meinen, es sei ihr gutes Recht, mit Gewalt gegen gewählte Vertreter*innen der Demokratie vorzugehen, wenn erwachsene Menschen agieren wie trotzige Kleinkinder (nur leider eben um ein Vielfaches gefährlicher!), dann braucht es keine Barmherzigkeit. Dann braucht es klare Kante und ein deutliches „Nein!“. Da ist Schluss mit Verständnis und Sorgen der Menschen sehen. Einfach Ende.
„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36). Sagt Jesus. Also nochmal von vorn: barmherzig sein, das heißt – ich erspare uns die Einzelheiten der Rückbindungen ans hebräische und altgriechische an dieser Stelle, liefere ich aber gern nach (bei Interesse einfach kurz mailen;)) – berührbar sein, das heißt, mich lässt nicht kalt, was um mir herum geschieht, ich empfinde mit, was in Menschen in Not, in Angst, in Trauer (nicht automatisch auch Wutbürger*innen) vorgeht, es trifft mich selbst in meinem Innersten. Ja, das kann heißen: ich muss einfach heulen, wenn ich Bilder aus Moria oder Lipa, Berichte aus dem Jemen oder von Missbrauchsprozessen sehe – und kann nicht weggucken. Erstmal heißt es das: Meine Mitmenschen gehen mir nicht am A… vorbei. Aber: damit ist es nicht getan. Aus diesem Mitgefühl, dem Mit-Leiden, dem Berührtsein muss etwas folgen: Ich muss aufstehen von meinem Sofa, vielleicht einfach erstmal zum Spendenkonto, vielleicht was anderes, hier vor Ort, was dran ist.
Barmherzig sein, das ist keine Chiffre für milde lächelnde Mildtätigkeit (womöglich von oben herab) – das ist: in den Eingeweiden rumoren, so angefasst sein, dass ich anpacken muss.
Und noch zweierlei: Erstens: Ja, für Gott, ist barmherzig zu sein ein Grundcharakteristikum, lässt sich an vielen Stellen der Bibel nachlesen (barmherzig, gnädig, geduldig – z. B. Ex 33,9; Ps 103,8) – aber: auch nicht das einzige. Auch Gott thront nicht milde abgehoben lächelnd fernab von allem, Gott wütet und tobt, Gott weint und klagt – gerade weil Gott im Innersten angefasst ist von dem, was mit seinen Menschenkindern geschieht, was wir mit ihrer Schöpfung veranstalten. Und dazu zählt auch: Gott lässt nach biblischer Überzeugung nicht einfach alles laufen sondern ‚geht den bösen Taten nach bis in die dritte und vierte Generation‘ (z. B. Ex 20,5). Also ‚wie auch euer Vater barmherzig ist‘ heißt genau das: angerührt sein vom Elend ja, aber nicht ja und amen sagend zu allem, was geschieht; weil Gott klare Neins formuliert, weil Gott klare Grenzen setzt. Weil Gott, Gott sei Dank, in der Bibel nicht einfach und schon gar nicht immer und überall lieb ist (der ist lieb, der tut nichts …). Jesus hat in derselben Rede auf dem Felde (wo schon ganz anderes passiert war, vor gut zwei Wochen, ihr erinnert euch …), da unten, am Fuß des Berges, kurz vorher gewaltig auf die Reichen eingedroschen, da war nix mit barmherzig im Sinne von mild-nachsichtig …
Zweitens: „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist.“ (Lk 6,36). Sagt Jesus. Eben nicht. Lukas konnte – anders als z. B. Markus – nämlich wirklich gut griechisch. Und er hält einen kleinen feinen Unterschied fest: Wir Angesprochenen (wenn ich jetzt einfach mal davon ausgehe, dass Lukas uns Leser*innen mit auf dem Feld verortet) sollen werden (griech. ginesthe), was Gott ist (griech. estin). Es ist im Werden, ist ein Prozess, mit uns und dem berührt, angefasst werden; da ist noch Luft nach oben.
Und Energie, bitte, um vom angefasst sein zum Anpacken zu kommen – für die, die uns brauchen – gegen die, die die Menschenwürde anderer oder auch die demokratischen Institutionen mit Füßen treten.
Ob Gottes Güte und Barmherzigkeit, wie Jesus es im Satz mit der Feindesliebe auch gesagt hat, auch die „Undankbaren und Bösen“ (Lk 6,35, Lutherübersetzung 2017) umfasst und wie genau ich mir das vorstellen soll, das lasse ich für heute mal offen. Ein weites Feld, ein zu weites womöglich auch, jedenfalls für mein heute noch sehr von den Washingtoner Bildern geprägtes Hirn.
Pfarrerin Dr. Kerstin Schiffner
Elias-Kirchengemeinde Dortmund