22.06.2023

„Kirchenasyl ist gelebte Nächstenliebe“

8760 Stunden. Rechnet man die Zeitspanne „ein Jahr“ in diese Einheit um, kann man vielleicht ermessen, was es bedeutet, dass die Evangelische Gemeinde Lünen seit einem Jahr ein Kirchenasyl ermöglicht.

von Nicole Schneidmüller-Gaiser

8760 Stunden, in denen eine junge Frau aus Somalia, Bilan Yussuf, untergebracht wurde. Im Detail heißt das: Mit Essen, Kleidung und allen Dingen des täglichen Bedarfs versorgen, unterrichten, begleiten, umsorgen, trösten und beschäftigen. Tag für Tag. Eine Gruppe Ehrenamtlicher kümmert sich gemeinsam mit mehreren Pfarrer*innen seit 12 Monaten um die 22-jährige, um ihr die Chance auf ein faires Asylverfahren zu ermöglichen. Jetzt traf sich Pfarrer Friedrich Stiller, einer der beiden Beauftragten für Flucht und Asyl des Evangelischen Kirchenkreises Dortmund, mit der Unterstützer*innengruppe. Er hat großen Respekt vor dem Engagement der sieben Männer und Frauen: „Die Gemeinde hat wirklich langen Atem bewiesen, davor ziehe ich den Hut!“

Beim Kirchenasyl geht es um den Schutz des Einzelnen. Die Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen betonen immer wieder, dass sie Kirchenasyl als „Ultimo Ratio“ begreifen, als letzten Ausweg, wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist, aber im Rahmen des Rechtsstaates. „Die Kirche arbeitet nicht gegen, sondern mit den Behörden – um Zeit zu schaffen für eine neue Prüfung“, so Stiller. Am Ende des Kirchenasyls steht zumindest bei denen, die über ein anderes europäisches Lend eingereist sind, nicht die Einbürgerung, wie mancher denken könnte, sondern der Asylantrag – der dann nach den für alle Geflüchteten geltenden Regeln geprüft wird.

„Wir konzentrieren uns als Kirchenkreis auf humanitäre Härtefälle – dafür haben wir hier in Dortmund bereits 2015 Standards erarbeitet“, erläutert der Theologe. Und diese Standards sind durchaus hoch angesetzt, was erklärt, dass die junge Bilan erst die sechste Schutzsuchende ist, die in einer Gemeinde Unterschlupf findet. Ein zweites Kirchenasyl verhilft aktuell zwei Frauen – Mutter und Tochter aus Guinea – ebenfalls zu einem Moment des Innehaltens. Auch hier hielten die Kirchenvertreter*innen eine Abschiebung in ein anderes EU-Land für nicht zumutbar, zudem eine der beiden Frauen körperlich beeinträchtigt ist.

„In der EU wird das sogenannte Dublin-Verfahren angewandt“, beschreibt Friedrich Stiller die komplexe Thematik. Vereinfacht gesagt bedeutet das für Menschen auf der Flucht, dass sie ihren Asylantrag i. d. R. dort stellen müssen, wo sie europäischen Boden betreten haben – wer nicht gerade mit dem Flugzeug kommt, für den ist naturgemäß nicht Deutschland zuständig. Bilder von den griechischen Inseln, aus Süditalien und Spanien lassen ahnen, wie groß die Belastung für diese Länder, erst recht aber für die gestrandeten Menschen in den Lagern ist. Mancher osteuropäische Staat winkt diejenigen, die über die Balkanroute vor Krieg und Not fliehen, einfach durch – oder versucht durch drastische Maßnahmen, durch Verhaftungen und sogar Gewalt gegen Flüchtende abschreckend zu sein.

Gelangt ein Mensch trotzdem in ein anderes europäisches Land, so kann er dort nach Ablauf eines halben Jahres seinen Asylantrag stellen. Wer allerdings bei der Abschiebung nicht angetroffen wurde, gilt als flüchtig und muss 18 Monate warten – eine Zeitspanne, die von Gemeinden nur durch großen Einsatz überbrückt werden kann. Unter anderem auch deshalb, weil die Geflüchteten während der gesamten Zeit vom Staat nicht versorgt werden, und die Gemeinde für Unterkunft, Kleidung, Lebensmittel und sogar Kosten im Krankheitsfall sorgen muss.

Für Bilan, die als Minderjährige ihr Heimatland verlassen musste und nun schon seit fünf Jahren lebt, und ihre Unterstützer-Gruppe geht das Kirchenasyl nun langsam dem Ende entgegen. Doch die Zahl der Menschen, die um Hilfe bitten, wird immer größer, wie Friedrich Stiller weiß: „In einem normalen Jahr hatten wir zuletzt 30 Anfragen in Dortmund – jetzt liegen wir Ende Mai schon bei 60.“ Das liegt einerseits daran, dass sich andere Kirchengemeinden und Kirchenkreise aus dem Kirchenasyl zurückgezogen haben. Zum anderen tragen die Notunterkünfte des Landes, in denen die Flüchtlinge in großer Zahl konzentriert an einem Ort – und somit in einem Kirchenkreis – verbleiben sollen, natürlich dazu bei, dass dort besonders viele Menschen um Hilfe bitten. „In Selm ist eine Zeltstadt mit mehr als 700 Plätzen entstanden – Und Selm gehört zu unserem Kirchenkreis.“

Für Stiller, aber auch die theologische Leitung des Kirchenkreises ist es keine Option, sich wie andere aus dem Kirchenasyl zurückzuziehen. Im Gegenteil: In einem Schreiben wendeten sich Superintendentin Heike Proske, ihre beiden Stellvertretungen und die beiden Flüchtlingsbeauftragten Stiller und Sabine Breithaupt-Schlak an die Kirchengemeinden und baten um Unterstützung. In einem neu eingerichteten Kirchenkreis-Forum können sich Menschen aus allen Gemeinden vernetzen, austauschen und informieren, um diese große Aufgabe gemeinsam zu stemmen. „Kirchenasyl ist gerade jetzt, wo der Druck so hoch ist, ein wichtiges Instrument“, sagt Friedrich Stiller entschlossen: „Für mich ist das gelebte Nächstenliebe.“

Foto: EvKkDo
Für Bilan, die als Minderjährige ihr Heimatland verlassen musste und nun schon seit fünf Jahren lebt, und ihre Unterstützer-Gruppe geht das Kirchenasyl nun langsam dem Ende entgegen. Doch die Zahl der Menschen, die um Hilfe bitten, wird immer größer.
Foto: EvKkDo